Die perfekte Mauer

Nachdem wir 1983 Land für unser Kloster gekauft hatten, waren wir völlig pleite und steckten bis zum Hals in Schulden. Auf dem Grundstück selbst stand kein einziges Haus, nicht einmal ein Schuppen. In jenen ersten Wochen schliefen wir auf alten Türen, die wir billig auf dem Schuttabladeplatz erstanden hatten. Wir waren arme Mönche, aber wir brauchten ein Dach über dem Kopf. Bauarbeiter konnten wir uns nicht leisten - schon die Kosten für das Material waren ja kaum aufzubringen! Also musste ich das Bauen von Grund auf erlernen: wie man ein Fundament legt, betoniert, mauert, ein Dach zimmert und sanitäre Einrichtungen einbaut, eben alles, was zum Bau gehört. Mein bürgerliches Leben als Physiker und Lehrer hatte mich nicht darauf vorbereitet, mit den Händen zu arbeiten. Doch im Verlauf einiger weniger Jahre wurde ich zu einem recht geschickten Bauarbeiter. Der Anfang war allerdings ausserordentlich mühsam.

 

Dem Aussenstehenden mag Maurerarbeit leicht erscheinen: Man pappt etwas Mörtel auf den Stein, setzt ihn an seine Stelle und klopft ihn ein bisschen fest. Wenn ich aber leicht auf eine Ecke schlug, um eine ebene Oberfläche zu erhalten, stieg eine andere Ecke nach oben. Kaum hatte ich diese auch festgeklopft, tanzte auf einmal der ganze Stein aus der Reihe. Behutsam brachte ich ihn also wieder in die richtige Position, um gleich danach festzustellen, dass die erste Ecke schon wieder hochragte. Es war zum Verzweifeln.

Als Mönch verfügte ich über so viel Geduld und Zeit, wie ich brauchte. Ich gab mir also grosse Mühe, jeden Backstein perfekt einzupassen, ganz gleich, wie viel Zeit ich dafür benötigte. Und irgendwann war die erste Backsteinmauer meines Lebens fertig gestellt. Voller Stolz trat ich einen Schritt zurück, um mein Werk zu begutachten. Erst da fiel mir auf - das durfte doch nicht wahr sein! -, dass zwei Backsteine das Regelmass störten. Alle anderen Steine waren ordentlich zusammengesetzt worden, aber diese zwei sassen ganz schief in der Mauer. Ein grauenvoller Anblick! Zwei Steine hatten mir die ganze Mauer versaut. Der Zementmörtel war inzwischen fest geworden. Also konnte ich diese Steine nicht einfach herausziehen und ersetzen. Ich ging zu meinem Abt und fragte, ob ich die Mauer niederreissen oder in die Luft jagen und neu anfangen dürfte. „Nein“, erwiderte der Abt, „die Mauer bleibt so stehen, wie sie ist.“

 

Als ich die ersten Besucher durch unser neues Kloster führte, vermied ich es stets, mit ihnen an dieser Mauer vorbeizugehen. Ich hasste den Gedanken, dass jemand dieses Stümperwerk sehen könnte. Etwa drei oder vier Monate später wanderte ich mit einem Gast über unser Terrain. Plötzlich fiel sein Blick auf meine Schandmauer. „Das ist aber eine schöne Mauer“, bemerkte er wie nebenbei. „Sir“, erwiderte ich überrascht, „haben Sie etwa Ihre Brille im Auto vergessen? Oder einen Sehfehler? Fallen Ihnen denn die zwei schief eingesetzten Backsteine nicht auf, die die ganze Mauer verschandeln?“

 

Seine nächsten Worte veränderten meine Einstellung zur Mauer, zu mir selbst und zu vielen Aspekten des Lebens. „Ja“, sagte er. „Ich sehe die beiden mangelhaft ausgerichteten Backsteine. Aber ich sehe auch 998 gut eingesetzte Steine.“ Ich war völlig überwältigt. Zum ersten Mal seit drei Monaten sah ich neben den beiden mangelhaften Steinen auch andere Backsteine. Oberhalb und unterhalb der schiefen Steine, zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten befanden sich perfekte Steine, ganz gerade eingesetzt. Ihre Zahl überwog die der schlechten Steine bei weitem. Bis dahin hatte ich mich ausschliesslich auf meine beiden Fehler konzentriert und war allem anderen gegenüber blind gewesen. Deshalb konnte ich den Anblick der Mauer nicht ertragen und wollte ihn anderen Menschen auch nicht zumuten. Deshalb hatte ich das Werk vernichten wollen. Doch als ich jetzt die ordentlichen Backsteine betrachtete, schien die Mauer überhaupt nicht mehr grauenvoll auszusehen. Der Besucher hatte schon Recht: Es war wirklich eine sehr schöne Mauer. Jetzt, zwanzig Jahre später, steht sie immer noch, und inzwischen habe ich längst vergessen, an welcher Stelle die mangelhaften Backsteine stecken. Ich kann sie mittlerweile tatsächlich nicht mehr sehen.

 

(Gekürzte Fassung der Geschichte „Zwei mangelhafte Backsteine“ aus dem Buch „Die Kuh, die weinte“ von Ajahm Brahm. Lotos Verlag, 2006, S. 21-24).

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